| Armuts- und Reichtumsbericht

Malu Dreyer stellt vierten Armuts- und Reichtumsbericht vor

„Armut bemisst sich nicht nur am Mangel an Geld, sondern auch an mangelnder Teilhabe an zentralen Lebensbereichen wie Bildung, Erwerbsarbeit, gesundheitliche Versorgung, Wohnen und Kultur.“ Das unterstrich Sozialministerin Malu Dreyer heute in Mainz bei der Vorstellung des vierten Armuts- und Reichtumsberichtes ihres Hauses, an dem die Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege und der Deutsche Gewerkschaftsbund durch eigene Berichtsteile mitgewirkt haben.

Das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den Regelleistungen im Rahmen der Grundsicherung garantiere das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, zu dem nicht nur die Sicherung der physischen Existenz, sondern auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gehöre. „Daran muss sich der Sozialstaat messen lassen“, sagte die Ministerin.

„Das Bundesverfassungsgericht macht mit seinem Urteil deutlich, dass der aus unterschiedlichsten Gründen auf die Hilfe der Gemeinschaft angewiesene Mensch kein Almosenempfänger ist, sondern als Bürger und Bürgerin ein Recht auf eine menschenwürdige Existenz hat“, unterstrich die Ministerin. Das bedeute, dass die Unterstützung sich nach klaren Kriterien und nicht nach der Kassenlage der öffentlichen Haushalte zu richten habe. „Die derzeitige Diskussion über Leistungsträger und Hilfeempfänger führt in die Irre, weil sie verkürzt und vereinfacht und die wirklichen Probleme nicht beim Namen nennt“, so Malu Dreyer. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stelle klar, dass das Lohnabstandsgebot nicht durch Senkung der Leistungen für hilfebedürftige Menschen und damit durch die Gefährdung des Existenzminimums verwirklicht werden könne. Vielmehr müssten endlich Mindestlöhne dafür sorgen, dass nicht immer mehr Menschen, die Vollzeit arbeiten, auf staatliche Unterstützung angewiesen seien. „Nur so bekommt der Satz ‚Arbeit muss sich lohnen’ endlich wieder den richtigen Sinn“, sagte die Ministerin.

Als armutsgefährdet gelten nach EU-Standard Menschen, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) der Bevölkerung beträgt. Im Jahre 2008 lag die Grenze für einen Einpersonenhaushalt bei 787 Euro und für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern bei 1.652 Euro. Danach galten 14,5 Prozent und gut eine halbe Million Rheinland-Pfälzerinnen und Rheinland-Pfälzer als armutsgefährdet. Das Armutsgefährdungsrisiko hat sich zwischen 2005 und 2008 nicht gravierend verändert. Besonders von Armut bedroht sind Menschen ohne Arbeit mit einer Gefährdungsquote von 53,1 Prozent und Alleinerziehende, die eine Armutsgefährdungsquote von 44,2 Prozent aufweisen. Von Armut bedroht sind häufig auch Migrantinnen und Migranten. Außerdem sind Frauen mit einer Quote von 15,8 Prozent stärker armutsgefährdet als Männer mit 13,2 Prozent.

Im Jahre 2008 erhielten 9,3 Prozent der Bevölkerung soziale Mindestsicherung, also Grundsicherung für Arbeitssuchende und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Rheinland-Pfalz wies damit die drittniedrigste Quote im Vergleich der Bundesländer auf. Die nach der Zahl der Empfängerinnen und Empfänger wichtigste Leistung ist die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Nach Einführung dieser Leistung zu Beginn des Jahres 2005 stieg die Zahl der Leistungsberechtigten bis Mitte 2006 von rund 206.000 auf etwa 263.000 Menschen erheblich an. Danach ging die Zahl spürbar zurück. Seit Anfang 2009 mit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise steigt die Zahl wieder an und lag im September 2009 bei rund 242.700 Leistungsberechtigten. Damit liegt Rheinland-Pfalz aber immer noch auf dem drittbesten Platz im Ländervergleich.

„Arbeitslosigkeit ist eine der wichtigsten Ursachen, warum Menschen in Armut rutschen“, so die Ministerin. Arbeitslosigkeit führe zu finanzieller Not, dem Verlust sozialer Sicherheit und dem Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Häufig seien auch Kinder davon in Mitleidenschaft gezogen. „Deshalb ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die sich die Landesregierung mit einem breiten Bündel arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen zum Ziel gesetzt hat, eine entscheidende Voraussetzung zur Vermeidung von Armut“, sagte Malu Dreyer. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise habe auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt in Rheinland-Pfalz. Waren bis November 2008 noch Rückgänge in den Arbeitslosenzahlen zu verzeichnen, sind ab Dezember 2008 wieder Zugänge festzustellen. Rheinland-Pfalz stehe dank der vorausschauenden Politik der Landesregierung und ihrer Partner dennoch sehr gut da, und belege mit einer Arbeitslosenquote von 6,4 Prozent nach wie vor den drittbesten Platz im Ländervergleich. Vor allem das Instrument Kurzarbeit habe in der Krise gegriffen. Die Landesregierung begegne der aktuellen Krise auf den Finanz- und Wirtschaftsmärkten durch konkretes Handeln, das die kurzfristige Bereitstellung erheblicher finanzieller Mittel für betroffene Unternehmen vorsieht, verbunden mit dem Einsatz passgenauer arbeitsmarktpolitischer Instrumente von Arbeitsverwaltung und Arbeitsministerium.

Die derzeitige öffentliche Diskussion um das Thema Armut und Sozialstaat sei sehr stark von der Forderung beherrscht, dass sich Arbeit wieder lohnen müsse, so die Ministerin. „Das stimmt, aber wer das wirklich ernst meint, muss daraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen“, so Malu Dreyer. Die Abwärtsspirale in die Armut könne nicht dadurch gestoppt werden, dass den Menschen ohne eigenes Erwerbseinkommen die Sozialleistungen weiter gekürzt werden. Die Einführung von Mindestlöhnen sei der einzige Weg aus der Armutsfalle. Es sei ein Skandal, dass immer mehr Menschen, obwohl sie Vollzeit arbeiten, auf ergänzende staatliche Leistungen angewiesen seien. „Die Tatsache, dass selbst eine Vollbeschäftigung nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu sichern, muss in der Regel als Sozialmissbrauch durch Unternehmen bezeichnet werden, die zu geringe Löhne zahlen und darauf vertrauen, dass ein Ausgleich aus Steuermitteln vorgenommen wird“, sagte die Ministerin. In Rheinland-Pfalz mussten 30 Prozent aller Aufstocker trotz Vollzeitjob zusätzliche Leistungen in Anspruch nehmen. „Die Logik, dass egal wie wenig Geringverdiener verdienen, es bei Arbeitslosen noch etwas weniger sein muss, ist mehr als zynisch. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verbietet das geradezu“, so Ministerin Dreyer.

Aus Sicht der Landesregierung sorgen Mindestlöhne für soziale Gerechtigkeit und helfen, Armut zu verhindern. Sie ermöglichen, dass Beschäftigte, die Vollzeit arbeiten, den Lebensunterhalt für sich selbst erarbeiten können und nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. „Mindestlöhne schützen außerdem Unternehmen vor Dumping-Konkurrenz“, so die Ministerin. Deshalb habe die Landesregierung bereits im Jahre 2007 einen Gesetzentwurf zur Festsetzung eines Mindestlohns in den Bundesrat eingebracht, der aber an der Blockade der unionsgeführten Länder gescheitert ist. Rheinland-Pfalz werde sich aber auch weiterhin für einen gesetzlichen Mindestlohn einsetzen, kündigte die Ministerin an.

Beschäftigung könne Armut also wirksam verhindern, wenn sie ausreichend entlohnt werde, so die Ministerin. Unzureichende Erwerbseinkommen und fehlende soziale Absicherung seien Ursache für Armut und zwängen den Sozialstaat zu ausgleichenden Leistungen. In den vergangenen Jahren sei eine zunehmende Tendenz weg von den Normalarbeitsverhältnissen hin zu so genannten atypischen bis hin zu prekären Beschäftigungsformen zu verzeichnen, die gekennzeichnet sind durch Befristung, Teilzeitbeschäftigung unter 20 Stunden, Zeitarbeit oder geringfügige Beschäftigung. Menschen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, die ohne weitere Erwerbstätige im Haushalt leben, weisen eine Armutsgefährdungsquote von 30,8 Prozent auf. Der Anteil der Menschen in Rheinland-Pfalz, die in diesen Beschäftigungsformen tätig sind, stieg zwischen 1998 und 2008 von 19,5 auf 25,8 Prozent, wobei der größte Anteil auf Frauen entfällt.

Diese Entwicklung sei ein großes Problem, da Arbeitsmarktrisiken einseitig auf die Beschäftigten verlagert würden. „Eine Entwicklung, die Niedriglöhne, kurze Beschäftigungsdauer und hohe Arbeitsmarktrisiken begünstigt, ist mit den Grundwerten des Sozialstaates unvereinbar“, sagte die Ministerin. Atypische und prekäre Arbeitsverhältnisse seien auch ein Problem mit Blick auf das Thema Altersarmut. Nachdem mit der Grundsicherung im Alter die verdeckte Altersarmut erheblich reduziert werden konnte, stehe für die Zukunft hier ein wieder wachsendes Problem zu befürchten, von dem vor allem Frauen betroffen seien. Die Landesregierung halte es deshalb für unverzichtbar, dass prekäre Beschäftigung eingedämmt wird. Die Ministerin wies in diesem Zusammenhang auf eine entsprechende Initiative zur Verbesserung der Situation in der Leiharbeit hin, die das Land kürzlich erneut  in den Bundesrat eingebracht hat.

Ein besonderes Armutsrisiko tragen auch Alleinerziehende mit Kindern unter 18 Jahren, die eine Armutsgefährdungsquote von 44,2 Prozent aufweisen, und Familien mit drei und mehr Kindern mit einer Quote von 24,6 Prozent. In Rheinland-Pfalz gibt es nach Angaben der Ministerin rund 131.300 Alleinerziehendenfamilien und 74.200 Familien mit drei und mehr Kindern. Vor allem für Kinder sei die Erfahrung, arm zu sein, eine extreme Belastung, die oft auch ihr späteres Leben präge.

Familien mit Hilfebedarf sähen sich häufig mit Vorurteilen konfrontiert, so beispielsweise, zusätzliche Leistungen kämen nicht bei den Kindern an. „Untersuchungen belegen aber, dass die meisten Eltern zuerst bei sich selbst und am wenigsten bei ihren Kindern sparen“, so die Ministerin. Die Diskussion um Sachleistungen im Sinne von Gutscheinen gehe daher am Ziel vorbei. Kinderarmut sei eine Herausforderung, die auf verschiedenen Ebenen angegangen werden müsse. Frühe Hilfen im Sinne von Prävention und guten Lebensbedingungen für Kinder sind Ziel der Landesregierung. Daher trete die Landesregierung dafür ein, die Einkommensarmut der Eltern beispielsweise durch Integration in den Arbeitsmarkt abzubauen, Familien- und Erziehungskompetenz zu fördern, Alltagshilfen für Familien zu stärken, Kindergesundheit zu fördern und den Ausbau einer kinder- und familiengerechten Infrastruktur voranzubringen, um die Abwärtsspirale, die durch die materielle Armut ausgelöst wird, zu stoppen. Im Vordergrund stehe dabei die sinnvolle Kombination aus finanzieller Förderung und Verbesserung von sozialer Infrastruktur, von Geldleistungen und Betreuungsangeboten. Eine Familie in Rheinland-Pfalz spare allein durch die Beitragsfreiheit der Kindergärten durchschnittlich 700 Euro, in Einzelfällen auch mehr als 1.000 Euro pro Jahr.

Die Ministerin begrüßte in diesem Zusammenhang besonders den Hinweis des Bundesverfassungsgerichts in seinem jüngsten Urteil, dass der spezifische Bedarf von Kindern in den  Kinderregelsätzen vollständig und nachvollziehbar abgebildet werden muss. Das Bundesverfassungsgericht bestätige damit eine Forderung, die die Ministerinnen und Minister für Arbeit und Soziales bereits mehrfach mit entsprechenden Beschlüssen an die Adresse der Bundesregierung gerichtet haben. Der Bundesgesetzgeber sei jetzt gefordert, die Vorgaben des Gerichts schnellstmöglich zum Wohle der betroffenen Menschen und vor allem der Kinder umzusetzen.

Gerade in Bezug auf die Teilhabe, deren Bedeutung das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil besonders herausstelle, habe Rheinland-Pfalz frühzeitig gehandelt. Beispiele dafür seien das Schulbedarfspaket, das 2009 auf Initiative von Rheinland-Pfalz bundesweit eingeführt wurde, eine vorbildliche Kinderbetreuungsinfrastruktur und die Abschaffung der Elternbeiträge für den Kindergarten. „Bei der Umsetzung des Urteils muss nun der Bund die Voraussetzungen dafür schaffen, dass alle staatlichen Ebenen in der Lage sind, ihrer Verantwortung für eine gute Infrastruktur gerecht zu werden. Nur so kann der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach einem Mindestmaß an Teilhabe entsprochen werden“, sagte Malu Dreyer.

Eine weitere Gruppe, die stark armutsgefährdet ist, ist die Gruppe der Migrantinnen und Migranten. Die Armutsgefährdungsquote der Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit lag 2008 bei 34,4 Prozent und damit weit über dem Durchschnitt der gesamten Bevölkerung; sie hat sich gegenüber dem Vorjahr sogar noch erhöht. Betrachtet man die Bevölkerungsgruppe der Menschen mit Migrationshintergrund, so hat diese Gruppe eine Gefährdungsquote von 27,9 Prozent. Gründe für Armut sind auch hier meist Arbeitslosigkeit und unzureichende Bildungs- und Berufsabschlüsse. Die Landesregierung setzt deshalb auf Integration und gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen des täglichen Lebens, wie Bildung, Arbeit, soziale Sicherheit, Familie, Gesundheit, Kultur, Recht und Ökologie. In Rheinland-Pfalz wurden die zentralen Leitlinien der Integrationspolitik definiert und im Integrationskonzept „Verschiedene Kulturen – Leben gemeinsam gestalten“ zusammengefasst.

Der Bericht enthält auch einen Teil zum Thema Reichtum. Bemessungsgrundlage ist hier die Reichtumsquote; als einkommensreich gilt, wer mehr als 200 beziehungsweise 300 Prozent des monatlichen Durchschnittseinkommens erzielt. Für Rheinland-Pfalz liegt diese Quote bei 8,4 beziehungsweise 2,2 Prozent und hat sich in den vergangenen Jahren nur geringfügig verändert, wenn auch Rheinland-Pfalz damit leicht unter den westdeutschen Reichtumsquoten liegt. Einkommensreichtum zeigt sich am häufigsten in der mittleren Generation der 30- bis 59-Jährigen, bei Selbständigen und bei Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen.

Die  Ministerin warnte in diesen Zusammenhang vor einer Polarisierung zwischen Arm und Reich. „Werden die Unterschiede zwischen Arm und Reich vom überwiegenden Teil der Bevölkerung als groß und schwer überwindbar wahrgenommen, kann das die Akzeptanz der demokratischen Gesellschaftsordnung und der Wirtschaftsordnung in Frage stellen. Das gilt vor allem dann, wenn große Bevölkerungsteile an den Einkommenszuwächsen der Gesellschaft nicht teilhaben“, sagte Malu Dreyer. Reichtum verpflichte zu sozialer Verantwortung. Eine Abkapselung reicher Teile der Gesellschaft dürfe es nicht geben. Gleichzeitig ist nach ihrer Auffassung eine sozialstaatliche Umverteilung unerlässlich. Der reiche Teil der Gesellschaft müsse angemessen an den sozialen Aufgaben beteiligt werden, so an der Bekämpfung von Kinderarmut, der Stärkung von Familien, der Vermeidung von Altersarmut und der Finanzierung der Sozialversicherungen. Auch das Steuerrecht müsse die soziale Verantwortung und die materiellen Möglichkeiten im Blick haben; das bedeute, dass jeder nach seiner Leistungsfähigkeit an der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben beteiligt werden müsse. „Notwendig ist eine Reform der Erbschaftssteuer, die Einbeziehung der Vermögenseinkommen und eine stärkere Berücksichtigung der höheren Einkommen“, so die Ministerin.

Die Sichtweise der verschiedenen an der Erstellung des Berichtes Beteiligten, wie Liga und DGB, sei nicht in allen Aspekten identisch, so die Ministerin. Um der politischen und sozialen Bedeutung der Themen Armut und Reichtum gerecht zu werden, gebe der Bericht aber eine gute Gelegenheit, unterschiedliche Sichtweisen einzubeziehen und Anregungen für eine Diskussion zu geben. Deshalb steht der Armuts- und Reichtumsbericht im Mittelpunkt von Fachkonferenzen, die 2010 im Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung gemeinsam mit Liga und DGB in einzelnen Regionen durchgeführt werden. Die Konferenzen bieten Gelegenheit zu einem kritischen Dialog zwischen Landesregierung, Freier Wohlfahrtspflege und Gewerkschaften. Am 4. März 2010 findet zum Auftakt die Regionalkonferenz in Koblenz statt.

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