Nr. 116-4/03
„Behinderte Menschen wollen selbstbestimmt leben. Nach diesem Wunsch und Bedürfnis hat sich das Wohn- und Hilfeangebot auszurichten“. Dies unterstrichen Sozialministerin Malu Dreyer und der Staatssekretär im Sozialministerium und Landesbeauftragte für die Belange behinderter Menschen, Richard Auernheimer, heute in Mainz bei der Vorstellung einer Expertise über gemeindenahe Wohnformen für behinderte Menschen. Malu Dreyer: „Wir wollen, dass das Leben im Heim für behinderte Menschen zur Ausnahme wird und dass vor allem auch Menschen mit einem hohen Bedarf an Unterstützung außerhalb von stationären Einrichtungen leben können, wenn es ihrem Wunsch entspricht“. Die jetzt vorgelegte Expertise bestätige, dass die Landesregierung mit innovativen Ansätzen wie dem Persönlichen Budget, der individuellen Hilfeplanung, der persönlichen Assistenz und weiteren alternativen Angeboten wie beispielsweise das Betreute Wohnen bereits auf dem richtigen Weg sei. Es gelte, diese weiter auszubauen. Die Expertise liefere dazu wichtige Impulse und Beispiele. Sie mache vor allem deutlich, dass zu konkreten Veränderungen neue Ideen und Kreativität, aber auch viel Mut und Willen bei allen Beteiligten nötig seien. Um den Prozess in Rheinland-Pfalz voranzutreiben, hat die Ministerin eine Expertenkommission einberufen, die konkrete Handlungsvorschläge erarbeiten soll.
Rheinland-Pfalz gehöre nach den Ergebnissen der Expertise zu den Bundesländern mit den meisten stationären Plätzen für Menschen mit Behinderungen, so die Ministerin. Rund 11.000 Menschen mit Behinderungen lebten in Rheinland-Pfalz in Wohnheimen. Gleichzeitig sei seit Jahren ein maßgeblich von den angelsächsischen Ländern und deren Bürgerrechtsbewegung ausgehender Trend zu beobachten, stationäre Einrichtungen zugunsten alternativer, gemeindenaher Angebote zurückzuführen. Die Untersuchung verweise auf Vorbilder von US-amerikanischen Großeinrichtungen für behinderte Menschen wie das Fairview Training Center im US-Bundesstaat Oregon, das schrittweise abgebaut wurde, während parallel gemeindenahe Strukturen entwickelt wurden. In Rheinland-Pfalz sei mit der Psychiatrie-Reform, bei der sich die drei großen Kliniken in Andernach, Alzey und Klingenmünster nach und nach verkleinerten, während sich dezentrale Angebote gebildet hätten, gezeigt worden, wie ein solcher Prozess funktionieren könne.
Maßgebend für den Veränderungsprozess seien die Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen; dies schließe nicht zuletzt ganz selbstverständlich deren Mitwirkung und Mitbestimmung am Veränderungsprozess mit ein. Das Selbstverständnis behinderter Menschen habe sich in den vergangenen Jahren deutlich gewandelt. Sie beanspruchten für sich mit Recht uneingeschränkte Teilhabe, völlige Gleichstellung und Selbstbestimmung. Rheinland-Pfalz habe als erstes Bundesland in Folge eines entsprechenden Bundesgesetzes diesem Wandel Rechnung getragen und ein Gesetz zur Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen geschaffen, so die Ministerin. Dieses Gesetz mit seinem umfassenden Begriff von Barrierefreiheit sei die wichtigste Grundlage für den angestrebten Strukturwandel.
„Träger und Anbieter von Leistungen müssen den Perspektivenwechsel mit vollziehen“, forderte die Ministerin. „Behinderte Menschen müssen die Wahl haben, die Hilfen in Anspruch zu nehmen, die sie benötigen und wünschen.“ Es gelte, das bestehende Wohn- und Unterstützungssystem vermehrt auf ambulante Betreuung auszurichten, die den behinderten Menschen ein Höchstmaß an Eigenständigkeit ermöglicht. Bereits vorhandene Ansätze müssten dazu weiterentwickelt werden. Das persönliche Budget, das Rheinland-Pfalz als erstes Bundesland im Jahre 1998 zunächst modellhaft, später flächendeckend erprobt habe, gebe behinderten Menschen die Möglichkeit, sich gezielt die Hilfen einzukaufen, die sie benötigen. Seit 20 Jahren werde darüber hinaus auch in Rheinland-Pfalz die persönliche Assistenz praktiziert, bei dem der behinderte Mensch als Arbeitgeber fungiere, der die Unterstützungsleistungen einer oder mehrerer Assistenzkräfte in Anspruch nehme. Ein wichtiges Unterstützungsinstrument sei auch das Peer Counseling, bei dem behinderte Menschen von ebenfalls behinderten Menschen beraten und unterstützt werden.
Die Expertise weise darüber hinaus den Weg zu weiteren Möglichkeiten alternativer Angebote. Dazu gehöre die Entwicklung integrativer Wohnformen nach bereits bestehenden Vorbildern wie dem Schammatdorf in Trier, wo Menschen unterschiedlichen Alters, verschiedenster Familienstrukturen und mit den unterschiedlichsten Unterstützungsbedürfnissen zusammenleben. Dazu gehöre auch die Förderung von neuen Ideen, wie den Tauschringen, bei denen im Rahmen eines nachbarschaftlichen Netzwerks gegenseitige Hilfen und Unterstützung geleistet werden. Dazu gehöre letztlich aber auch die konsequente Umsetzung der im Landesgesetz festgeschriebenen Barrierefreiheit auf allen Ebenen, also nicht nur räumlich, sondern auch bei der Informationsvermittlung. Die barrierefreie Gestaltung von Angeboten und Informationen beispielsweise durch leicht verständliche Sprache sei im Übrigen eine unabdingbare Voraussetzung für die Mitwirkung behinderter Menschen an den Veränderungs- und Entscheidungsprozessen.
In der Expertenkommission, die jetzt Vorschläge in dieser Richtung erarbeiten soll, seien Menschen mit Behinderungen als „Experten in eigener Sache“ ebenso vertreten wie die Anbieter- und die Kostenträgerseite. Die Kommission habe den Auftrag, konkrete Handlungsvorschläge zu erarbeiten, wie das derzeit im Wesentlichen durch stationäre Einrichtungen geprägte Betreuungs- und Hilfesystem auf den Vorrang ambulanter Hilfen eingestellt werden könne. „Nur wenn wir alle, Politik, Betroffene und ihre Angehörigen, aber auch Anbieter und Kostenträger an einem Strang ziehen, können wir einen großen Schritt in Richtung von mehr Integration behinderter Menschen tun“, so Malu Dreyer.